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Die indische Demokratie – 70 Jahre ‚funktionierende Anarchie‘

Jürgenmeyer, M.A. Clemens (2017): „Die indische Demokratie – 70 Jahre ‚funktionierende Anarchie‘“, in: Meine Welt. Zeitschrift des Deutsch-Indischen Dialogs, 34 (1), 17-21.
Abstract:
Indien wird gemeinhin als „die größte Demokratie der Welt“ bezeichnet. Diese Bezeichnung gilt zu Recht für ein Staatswesen, das nach China die zweitgrößte Bevölkerung aufweist. Mit ca. 1,1 Milliarden Menschen und ca. 700 Millionen Wahlberechtigten organisiert diese außereuropäische Demokratie ein Sechstel der Menschheit und damit weit mehr Bürger und Wähler als alle etablierten Demokratien der westlichen Welt zusammen. Die gigantische Größenordnung der indischen Demokratie zeigt sich allein schon bei einem Vergleich mit Europa: So umfassen die sieben größten Bundesstaaten Indiens jeweils mehr Einwohner als große europäische Staaten wie Frankreich, Italien oder Großbritannien, und die Bevölkerung der vier größten Bundesstaaten Uttar Pradesh, Maharashtra, Bihar und West Bengal übertrifft die der gesamten Europäischen Union. Doch nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ nimmt die indische Demokratie, vor allem im Vergleich mit anderen Ländern der Dritten Welt, eine Sonderstellung ein. Sie hat seit über 60 Jahren Bestand und zeichnet sich durch regelmäßig stattfindende Wahlen mit einer relativ hohen Wahlbeteiligung von nunmehr rund 60%, friedliche Regierungswechsel und einen leidlich funktionierenden Rechtsstaat aus. Diese Sonderstellung gilt umso mehr, als Indien bis heute zu einem der ärmsten Länder der Welt zählt – ein gutes Viertel der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze –, von einer geradezu beispiellosen Vielfalt der Völker, Sprachen und Kulturen geprägt ist – es gibt allein 22 offiziell anerkannte Sprachen – und immer noch einen hohen Grad an Analphabetismus aufweist – fast 40% der Bevölkerung können weder lesen noch schreiben. Weiterhin ist die moderne Massendemokratie, gepaart mit dem Anspruch einer umfassenden Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, europäischen Ursprungs und von der einstigen Kolonialmacht England in eine bäuerliche Gesellschaft mit einer ausgeprägten hierarchischen Struktur eingeführt worden. Vor diesem Hintergrund erscheint die Dauerhaftigkeit der indischen Demokratie als ein wahres Wunder, das bis heute nicht nur einen einmaligen Charakter besitzt, sondern auch als Vorbild dienen kann. Mit anderen Worten: Im zweitgrößten Land der Erde existiert eine Demokratie, die es nach menschlichem Ermessen und unter den gegebenen Umständen gar nicht geben dürfte, sie scheint, so Atul Kohli (1988, S. 3), eine ziemliche Anomalie zu sein. Wo liegen die Ursachen für dieses Phänomen und welche Bedeutung kommt ihm über Indien hinaus zu?
Date of publication:
Forschungsbereich: Contested Governance
Language: Deutsch
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