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ALMA Reviews Blog: Valeurs républicaines et vivre-ensemble au Tchad. Appartenances religieuses

Ladiba Gondeu; University of N´Djamena, Chad

Published in 2020 by  L’Harmattan, Paris

Available at: https://www.editions-harmattan.fr/livre-valeurs_republicaines_et_vivre_ensemble_au_tchad_appartenances_religieuses_ladiba_gondeu-9782343189024-65940.html

Sozialwissenschaftliche Analysen von Historikern und Anthropologen beziehen sich in der Regel auf Vergangenes. Bedingt durch die Dringlichkeit ihres Themas verlieren manche Veröffentlichungen allerdings nie ihre ihren aktuellen Bezug, sondern werden gleichermaßen noch von der Aktualität überholt. Das Buch von Ladiba Gondeu gehört zu ihnen. Wie sein von ihm als Essay herausgegebenes Werk „Republikanische Werte und Zusammenleben im Tschad“ zeigt, drehen sich in diesem zentralafrikanischen Land seit der Unabhängigkeit wesentliche politische Debatten um Kohabitation und friedliches Zusammenleben. Gondeu beschreibt, dass das Zusammenleben in den vergangenen 61 Jahren allerdings alles andere als friedlich war. Den überraschenden Tod des langjährigen Präsidenten Idriss Déby Itno und den darauffolgenden Militärputsch sowie die Machtübernahme durch eine militärische Übergangsregierung im April 2021 konnte Gondeu mit seinem 2020 veröffentlichten Werk natürlich nicht vorhersehen. Aber genau wegen dieser Dynamik sind die Themen „Zusammenleben und Republik“ sowie die zukünftige politische Ordnung des Landes derzeit an Aktualität nicht zu überbieten. Opposition und Zivilgesellschaft diskutieren seit dem Putsch über die Wiederherstellung einer demokratischen Ordnung in einem religiös und ethnisch vielfältig stratifizierten Staat, im dem sich eine kleine Machtelite seit Jahrzehnten bereichert hat und die Bevölkerung völlig verarmt ist. All diese Punkte führt Gondeu, social anthropologist an der Universität von N’Djamena, auf und diskutiert sie für den Tschad.

Gondeu wählt die Auseinandersetzungen um die Einführung eines neuen Personen- und Familienrechts, um die Komplexität der tschadischen Gesellschaft aufzuzeigen. Anhand der Diskussionen um das neue Rechtsbuch beleuchtet er die verschiedenen Gruppen sowie Konfliktlinien, die das Land prägen. Desweiteren zeigt er entlang dieser Konfliktlinien auf, warum sich im Tschad seit dem Ende der französischen Kolonialzeit noch kein Nationalgefühl entwickeln konnte. Im Gegenteil, Zugehörigkeit zu Region, zu Sprache, zu ethnischer und religiöser Gruppe bestimmen nach wie vor die Selbsteinordung, das Zugehörigkeitsgefühl sowie die sozialen und politischen Allianzen. Gleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen sind in weiter Ferne. Der autoritären politischen Führung lastet er die Hauptlast für die Cleavages an, da sie sie seit Jahrzehnten genau berechnend für ihren eigenen politischen und wirtschaftlichen Machterhalt nutzt.

Mit der detaillierten Darstellung des – noch immer nicht verabschiedeten – Personen- und Familienrechts (die tschadische Gesetzgebung orientiert sich an der französischen) stellt Gondeu die unterschiedlichen gesellschaftlichen Strömungen und Interessen dar, die sich hinter dem trockenen Wort Cleavage verbergen. Das neue Gesetzbuch, immerhin ein Werk von 991 Artikeln auf 243 Seiten, an dem von 1994 bis 2000 gearbeitet wurde, steht oft nicht nur im Widerspruch mit muslimischen und christlichen Werten. Auch das traditionelle Recht, seit der Kolonialzeit gleichberechtigt mit staatlicher und religiöser Rechtsprechung, setzt andere Maßstäbe als die moderne Rechtsprechung, wie Gondeu darstellt.

Gondeu erläutert die unterschiedlichen Ansichten über den Status der Frau, die Ehe, das Erbe, Adoption und viele andere Punkte der protestantischen und katholischen Kirchen, islamischen Autoritäten in der Form des Obersten Rats für Islamische Angelegenheiten sowie des traditionellen Rechts. Die verschiedenen Prinzipien, Lehrmeinungen und überlieferten Traditionen sind schwer miteinander zu vereinbaren. Nicht verwunderlich also, dass immer noch keine Einigkeit über das Gesetz erreicht werden konnte. Dabei wurde es ausgerechnet in der Absicht zur Stärkung der nationalen Identität und Homogenisierung der juristischen Instanzen ausgearbeitet.

Gondeu geht es nicht in erster Linie um die Verabschiedung des Personen- und Familienrechts, sondern um die Werte, die die Bevölkerung eines Staates zu einer Nation werden lassen. Trotz aller von ihm aufgezeigten Defizite und Cleavages schließt dennoch optimistisch. Zum einem setzt er auf die in der Verfassung verankerte Laizität. Aber letztendlich liegt seine Hoffnung auf die Machbarkeit von sozialer Transformation auf seinen Landleuten und auch auf der jungen Generation. Gemeinsam werden sie einen „Republikanischen Baum“, wie er ihn nennt, wachsen lassen. Diesen republikanischen Gemeinsinn braucht es heute mehr denn je. Schließlich, dieser Satz sei der Rezensentin erlaubt, sollte der Tschad nicht in den Händen einer Herrscherdynastie bleiben.

Ladiba Gondeu führt den Leser auch in die gängige Literatur zur Theorie von Staat und Gesellschaft ein. Diese dient ihm als Interpretationsgrundlage für seine eigene Analyse der Komplexität der tschadischen Gesellschaft und Politik sowie der daraus entstandenen Debatten. Besonders originell und hilfreich ist dabei seine Konzentration auf den Gesetzestext. Als Insider und enger Beobachter der tschadischen Politik hat Gondeu einen geschärften Blick für Nuancen. An einigen Stellen wäre ein Abkürzungsverzeichnis hilfreich gewesen. Ansonsten ist das Buch eine eindrückliche Lektüre für jeden, der die Komplexität des Tschad und seine Cleavages besser verstehen und einordnen möchte.

Reviewed by: Helga Dickow

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Foto: ©Cynthia Matonhodze, Harare, Zimbabwe

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