Aktuelle transregionale Energieinfrastrukturprojekte zielen darauf ab, die globale Vernetzung zu erhöhen. Sie zeichnen das Bild von Energieströmen, die von Grenzen scheinbar unbeeinträchtigt sind. Wissenschaftler*innen in der Politikwissenschaft und Soziologie tun sich jedoch meist schwer, transregionale Verflechtungen jenseits der Nationalstaaten zu erfassen. Globale Planungsagenturen sind – in Zusammenarbeit mit Regierungen und internationalen Finanzinstitutionen – zu Schlüsselakteur*innen bei der Umsetzung des Infrastrukturausbaus geworden. In rasendem Tempo verändert die globale Errichtung eines komplexen und erneuerten Energieinfrastrukturnetzes – von Wind- und Solarenergieanlagen bis hin zu Verbundnetzen und Übertragungskabeln – die Beziehungen zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden.
In diesem Projekt wird das Verständnis für die Beziehung zwischen überregionaler Infrastruktur und dem politischen Handeln der verschiedenen Akteure bei der Planung, Verwaltung und Umsetzung dieser Infrastruktur vertieft.
Während solche Infrastrukturen zwar zunehmend transregional sind, sowohl in materieller Hinsicht grenzüberschreitender Hardware als auch in Bezug auf die Wiederholung ähnlicher Konzepte auf der ganzen Welt, fehlt es an einem tieferen Verständnis der Beziehung zwischen transregionaler Infrastruktur und dem politischen Handeln der verschiedenen Akteur*innen bei ihrer Planung, Verwaltung und Umsetzung. Infrastruktur-Gesamtkonzepte sehen zunehmend so aus, dass sie den Vorstellungen von Infrastrukturen als Instrumente der Moderne entsprechen, die die Hoffnungen auf „Fortschritt“ erfüllen. Solche Projekte stützen sich überwiegend auf globale Qualitätsmessungen, Organisationslogiken der Finanzialisierung und generische Modelle wie „Entwicklungskorridore“.
Ausgehend von zwei transregionalen Energieinfrastrukturprojekten, nämlich dem Versuch, die Stromnetze zwischen Nordafrika und Europa über Unterseekabel zu verbinden (MedGrid), und der Errichtung eines Verbundnetzes zwischen Nord- und Mittelamerika (SIEPAC), stellt dieses Forschungsprojekt folgende Fragen:
- Auf welche Weise verändern transregionale Infrastrukturprojekte die Möglichkeitsfelder lokalen, nationalen und transnationalen politischen Handelns?
- Wie wirken sie sich auf demokratische und/oder autoritäre Praktiken des Regierens aus?
Das Forschungsprojekt
(1) kombiniert globale Infrastruktur- und Governance-Studien, um das Kontinuum zwischen demokratischen und autoritären Praktiken beim transregionalen Infrastrukturausbau und insbesondere die Rolle globaler Planungsagenturen beim Infrastrukturausbau zu untersuchen. Es ermöglicht ein tieferes Verständnis der politischen Konsequenzen des Infrastrukturausbaus für eine globale Energiewende.
(2) institutionalisiert eine interdisziplinäre Forschungsplattform zu transregionaler Infrastruktur, um disziplinäre und nationalstaatliche Grenzen zu überwinden, die solche Energieinfrastrukturprojekte so deutlich überschreiten.
Wer?
Alke Jenss leitet das Projekt, ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin & Head of Contested Governance Cluster am Arnold-Bergstraesser Institut. Ihr Fokus im Projekt bezieht sich auf Konflikte um große Staudämme, Landfragen, Infrastructure Studies, politische Ökonomie, Literatur zu „autoritärem Neoliberalismus“, SIEPAC, Costa Rica, Südmexiko und der Grenzregion mit Guatemala.
Alessandra Bonci ist Post-doc und forscht in „Promises“ zu Infrastrukturprojekten und Governance in Tunesien. Ihr Fokus im Projekt bezieht sich auf Autoritarismus und konservative religiöse Bewegungen, politischer Islam, Gender Studies, soziale Bewegungen und Protest, Energieinfrastrukturprojekte zwischen Europa und Nordafrika (Solar), Nordafrika und Tunesien.
Benjamin Schütze ist ein assoziierter Mitarbeiter im Projekt und leitet das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierte Projekt "Erneuerbare Energien, erneuerte Autoritarismen? Die Politische Ökonomie von Solarenergie in der MENA-Region".
SIEPAC: Das Zentralamerikanische Stromnetz
Die SIEPAC, seit 2014 in Betrieb, ist das Stromnetz des Mesoamerikanischen Projekts, eines gigantischen Infrastrukturplans zwischen Mexiko, Mittelamerika und Kolumbien. Es wird unter anderem von der Interamerikanischen Entwicklungsbank finanziert und verfügt über eine Kapazität von 300 MW. Sein Betreiber, das multinationale Unternehmen EPR, befindet sich im Besitz der mittelamerikanischen und mexikanischen öffentlich-privaten Stromnetzbetreiber wie dem costaricanischen Elektrizitätsinstitut (ICE) oder der mexikanischen Elektrizitätskommission (CFE), wobei verschiedene Akteure und geografisch weit auseinander liegende Standorte beteiligt sind. Das Projekt konzentriert sich auf SIEPAC-angeschlossene Standorte in Costa Rica und Mexiko.
Die internationale Stromübertragungsleitung erstreckt sich über 1830 km von Panama in Richtung Norden bis zur guatemaltekischen Grenze zu Mexiko und soll ungehinderte Energieflüsse, eine verstärkte Stromerzeugung und -verteilung ermöglichen. SIEPAC verbindet die Energieerzeugung in großem Maßstab mit der Stromnachfrage aus Agrar(industrie) und energieintensiver Wirtschaft. Der Infrastrukturplan des Mesoamerikanischen Projekts war von Anfang an ein transnationaler, „regionales Vorhaben“ (AMEXCID, 2017), das auf die Einheit Lateinamerikas setzte und konzentriert sich auf die wettbewerbsfähige Erzeugung von und den Zugang zu Strom. Protestbewegungen verwenden dagegen eine Sprache, die sich an Erzählungen über koloniale Weltwirtschaft und Gewalt orientiert. Basisinitiativen argumentieren, dass Menschen durch Projekte, die Energie für den Export erzeugen, vertrieben und bedroht werden, und haben wiederholt gegen solche Projekte gekämpft.
Betrachtet man die Vielzahl der Akteure, die an der Entstehung und Nutzung des Projekts beteiligt sind, und die Rahmung durch Gegenöffentlichkeiten, so offenbart nicht die materielle Infrastruktur allein konfliktreiche Beziehungen um das Projekt herum. Die Verbindungen, die SIEPAC schafft, reichen weit über die Länder hinaus, in denen Strommasten und Kabel gebaut werden.
Das Stromnetz zwischen Tunesien und Italien
Aktivist Hamza Hamouchene vom Transnational Institute nannte bereits 2017 den Bau des Energieinfrastrukturprojekts des englischen TuNur-Projekts in Tunesien als Fall von „Energiekolonialismus“, ähnlich wie Desertec oder die Ouarzazate-Solaranlage in Marokko. Es gibt Befürchtungen, die strukturelle Wasserknappheit könne durch solche Projekte ähnlich wie in Marokko stark zunehmen. Landwirte wehren sich deshalb gegen den Bau von Solaranlagen. Das Teilprojekt erforscht die Wahrnehmung lokaler Gemeinden und tunesischer Akteur:innen von Energieprojekten.
Das Projekt befasst sich mit dem TuNur-Solarkraftwerk und der jüngst von Italien beworbenen Stromnetzausweitung zwischen Cap Bon und Sizilien durch Unterwasserkabel. Umspannwerke in Partanna in der italienischen Provinz Trapani und ein Umspannwerk auf der Halbinsel Cape Bon in Tunesien sollen verbunden werden und „höhere Energieerzeugung aus erneuerbaren Quellen ermöglichen.“ In diesem Projekt wird untersucht, wer tatsächlich von dieser massiven Energieerzeugung profitieren wird, welche Informationen und Vorstellungen die lokale Bevölkerung zum Projekt hat, und wie sich die Energieinfrastruktur auf die lokale Fischereiwirtschaft auswirken kann. In einem angespannten politischen Umfeld, in dem Tunesien sich an Vorgaben des Internationalen Währungsfonds IWF halten muss, können wir über Infrastrukturprojekte im Energiesektor Fragen zu Staat, Demokratie, autoritären Praktiken und gesellschaftliche Forderungen stellen.
Im Rahmen des Projekts fanden folgende Workshops statt:
Workshop: The Energy Infrastructure-Democracy Tension?
Do., 16.03.2023 - 12:00 - Fr., 17.03.2023 - 12:00
Wie können wir auf Basis von Infrastrukturprojekten ein neues Licht auf autoritäre Praktiken werfen? Geopolitische Aspekte liegen auf der Hand, aber Wissenschaftler:innen und Journalist:innen haben zuletzt das Paradox "undemokratischer" Aspekte des Infrastrukturausbaus in demokratischen Staaten hervorgehoben. In den letzten Monaten wurden beispielsweise in Großbritannien und in Deutschland zahlreiche Klimaaktivist:innen präventiv verhaftet.
Wir behaupten, dass Infrastrukturen eine entscheidende Rolle im Verhältnis autoritärer/demokratischer Praktiken spielen. Die politische Praxis hat großen Einfluss darauf, wie Energieinfrastrukturprojekte umgesetzt werden. Wir fragen, inwieweit demokratische und autoritäre Praktiken die Beziehungen zwischen Nord und Süd im Bereich der Energieinfrastruktur prägen. Die Akteure, die Energieinfrastrukturprojekte anfechten oder unterstützen, sind ebenfalls Teil dieser Untersuchung. Für welche Werte setzen sie sich ein? Welche Repertoires von Protest setzen diese Akteure ein, auch angesichts möglicher Zwänge?
Das ABI-Team war Gastgeber für Wissenschaftler:innen aus Europa, Nordafrika und Lateinamerika, die zu Energie und Infrastruktur arbeiten. Sie diskutierten, wie transregionale und potenziell autoritäre Praktiken rund um den Infrastrukturausbau (Wasser, Solar, Wind, aber auch fossile Brennstoffe) weiter gedacht werden können. Die Teilnehmenden konzentrierten sich auf den Zusammenhang Autoritarismus - Energieinfrastrukturen in der MENA-Region, der Europäischen Union und Lateinamerika, im Hinblick auf soziale Bewegungen, transregionale Aspekte und die politische Ökonomie von Infrastrukturen.
Veranstaltungsort: Freiburg
Workshop: Afrontar las crisis desde América Latina: Autoritarismo en Democracia, Perspectivas transregionales e históricas sobre espacios en disputa
Di., 20.09.2022 - 12:00 - Do., 22.09.2022 - 12:00
Alke Jenss, Fabricio Rodríguez
Die Plattform für Dialog "Autoritarismo en Democracia" fand im September 2022 in Guadalajara in Mexiko statt und diskutierte den Zusammenhang zwischen Demokratiekrise in Lateinamerika und der Anpassungs- und Privatisierungspolitik der letzten drei Jahrzehnte aus einer transregionalen Perspektive. Organisiert von Alke Jenss, Fabricio Rodríguez und Javier Alemán, war das Ziel des Workshops, einen Raum für Austausch und Reflexion zu schaffen, über das Zusammenfallen von autoritären und demokratischen Praktiken, räumliche und skalare Aspekte, für Forschende aus Disziplinen wie Politikwissenschaft, Geographie, Soziologie und Globalgeschichte. Der Workshop vertrat auch den Standpunkt, dass wir zur Analyse autoritärer Praktiken mehr über die Strategien sozialer Bewegungen und nichtstaatlicher Akteure wissen müssen, die sich häufig transnational organisieren, um autoritären staatlichen Praktiken zu begegnen. Das Centre for Advanced Latin American Studies (CALAS) finanzierte den Workshop.
Veranstaltungsort: CALAS, Hauptsitz Guadalajara - Auditorium Rosario Castellanos, Mexiko
Alke Jenss und Alessandra Bonci diskutierten ihre empirische und konzeptionelle Arbeit aus dem "Promises of Democratic Connection"-Projekt in einer Vielzahl von Konferenzen, Vorträgen und Workshops und entwickelten sie dadurch weiter.
Alke stellte ein gemeinsames Papier zur Politischen Ökonomie des Elektrizitätssektors in Costa Rica und Tunisia vor, auf Einladung des Departmental Seminar des Instituts für Politikwissenschaft der Eberhard-Karls-Universität Tübingen (24.01.2024).
Alessandra und Alke besprachen beide ihre Arbeit in einem von Benjamin Schütze organisierten Workshop am Arnold-Bergstraesser-Institut im Januar 2024.
Alessandra diskutierte die ersten Ergebnisse des Projekts am Atelier Schumann der Laval University in Kanada unter dem Titel "Défis énergétiques et enjeux géopolitiques contemporains – Perspectives transatlantique et internationale" (3rd November 2023).
Zwischen 6.-9. September in Potsdam nahmen Alke Jenss und Alessandra Bonci an der European International Studies Association (EISA) Pan-European Conference teil und stellten ein gemeinsames Papier vor, in der Sektion zu Infrastructures and Global Order ("The (Authoritarian) Management of National Energy in Costa Rica and Tunisia"). Alke diskutierte ihr Papier zu Reworking Hierarchies in Hydropower in Costa Rica in derselben Sektion.
Im internen Seminar des Arnold Bergstraesser Instituts präsentierten Alessandra und Alke einen Entwurf eines gemeinsamen Artikels (7th August 2023).
Alessandra diskutierte ihre Arbeit zu Tunesien auf der BRISMES-Konferenz (2.-5. Juli 2023) an der Exeter University (UK) in einem Panel unter dem Titel "New energy infrastructures, old hierarchies of power? Renewable energies and the reconfiguration of governance practices in the MENA".
Auf der International Relations Section Conference of the German Political Science Association (DVPW-IB, 14th-15th June 2023), präsentierte Alke ihren gemeinsam mit Benjamin Schütze geschriebenen Artikel „Prefiguring Politics. Transregional energy infrastructures as a lens for the study of authoritarian practices" (Globalizations, 2023).
Alessandra lehrte in der Politikwissenschaft der Universität Freiburg (“Social Movements in the MENA Region") im Wintersemester 2023-2024; Alke lehrte einen doppelstündigen Kurs im Sommersemester 2023 am University College Freiburg unter dem Titel "The Politics of Energy Infrastructures".
Alke Jenss & Benjamin Schuetze (2023) Prefiguring politics: transregional energy infrastructures as a lens for the study of authoritarian practices, Globalizations, DOI: 10.1080/14747731.2023.2181545
Julia Gurol, Alke Jenss, Fabricio Rodríguez, Benjamin Schuetze & Cita Wetterich (2023) Authoritarian power and contestation beyond the state, Globalizations, DOI: 10.1080/14747731.2022.2162290
Alke Jenss (2023) Fantasies of Flows and Containment: The Technopolitics of Security Infrastructures in the Americas, Antipode, online first: https://doi.org/10.1111/anti.12991
Alke Jenss (2021) Infraestructuras Transnacionales de Energía en América Latina. Perfiles Latinoamericanos 29(58):1-27. DOI: 10.18504/pl2958-007-2021
Gefördert durch die Fritz-Thyssen-Stiftung